Matt’s Backlog Journey, Part 1: Alice: Mattness Returns
Zuletzt gespielt: 9. September 2015; 10% Completion
Warum im Backlog: Es musste, wie vieles in meinem Leben im Herbst 2015, The Witcher III weichen. No Regrets xD
Beendet?: Ja; 87% Completion
Als ein Kind der Neunziger und frühen Zweitausender bin ich in einer Zeit aufgewachsen, in der das Internet zwar existierte, aber erst nach und nach Teil des Alltagslebens in so ziemlich jedem Haushalt wurde. Es gab kein Twitch, kein YouTube, keinen für den Tigerentenbrille tragenden Matt zugänglichen online Gaming Space. Was habe ich also getan, fragt ihr euch? Habe ich mich mit meinen Freunden getroffen, um Fußball zu spielen, zu wandern, draußen zu toben? Frische Luft tanken? Gar… Sonnenlicht?
… ihr seid süß
Wir haben uns getroffen und oft und sehr gerne habe ich anderen, vor allem meinem damals besten Freund, beim Zocken zugesehen. Grand Theft Auto 2, Diablo, Counter Strike 1.6 und Co flackerten über den Screen und ich feixte und kommentierte, was er tat oder spielte nebenbei Pokémon und Harvest Moon auf meinem Gameboy Advance… Analoges Twitch mit Discord, sozusagen. Alles offline. Ganz ohne Abos und Bits.
Als wir ungefähr zwölf oder dreizehn waren, anno 2002/03, spielte mein Freund, nennen wir ihn Bob, zum ersten Mal American McGee's Alice. Ein Action-Platformer, erschienen bereits im März 2000, und wahrscheinlich eines der interessantesten Spiele, von denen ihr niemals gehört habt.
Lange bevor, viele Jahre später, Tim Burton das Wunderland in ähnlicher Weise in die Kinos brachte, brach das Spiel mit den Konventionen der Disneyversion aus unserer Kindheit. McGee's Alice war düster, weird, unheimlich, abgefucked schräg und wunderbar. Bob und ich liebten es, die Welt liebte es.
American McGee’s Alice hält, basierend auf 34 Kritiken, einen Metacritic Score von 85. Mehrere Outlets, wie IGN oder GameZone, vergaben gar Bestwertungen. Leveldesign, Musik, Atmosphäre und vor allem das kreative und abgefahrene Waffenarsenal, mit dem man sich gegen die unzähligen Horrorkreaturen aus Alice‘ Fiebertraum wehren konnte, begeisterten. Es gab Merchandise, Comics und tonnenweise Fanart, Pläne für eine Filmadaption; you name it. Alice schien gekommen, um zu bleiben.
Jahre gingen ins Land. Bob und ich wurden älter, zockten weiter fleißig, kamen dann aber auch doch mal ein wenig vor die Tür. Wir gingen feiern, rauchten vor dem Spiegel und fühlten uns unendlich cool, tranken das erste Bier, waren Teenager. Alice wurde nicht das nächste heiße Eisen im Feuer von EA. Nicht das nächste Kultmaskottchen mit eigenem Bestseller-Franchise. Die Filmadaptionen wurden nicht realisiert, Es gab üble Streitigkeiten zwischen McGee und Electronic Arts, die Verkaufszahlen enttäuschten (360.000 bis Ende 2006, laut Wikipedia). Die Welt vergaß Alice. Ich selbst vergaß Alice. Bob tat das nicht.
Wie es genau passiert war, habe ich vergessen. Vielleicht hat es sein Vater auf dem Flohmarkt verkauft, nachdem Bob mal wieder eine vier in Mathe geschrieben hatte, vielleicht hatte er selbst es verlegt, aus Versehen weggeschmissen, verliehen… wer weiß es denn? Aber wie der Eine Ring einst Gollum, verließ Alice meinen Freund Bob. Immer und immer wieder kam er in den Jahren danach zusammenhangslos auf das Spiel zu sprechen. Wie einzigartig und kreativ es war, wie gerne er es noch einmal spielen würde. Aber das Spiel blieb verschwunden.
Bevor ihr Pappnasen jetzt mit rationalen Einwürfen mein emotionales Narrativ einzustürzen versucht, macht euch ein weiteres Mal klar: damals war es eine andere Welt. Es gab Ebay, Amazon und Co bereits, sicher. Re-buy und Medimops wahrscheinlich noch nicht, aber selbst wenn, waren sie 2006/07 nicht der stabile Gebrauchtwarenmarkt für alten Krempel, der sie heute sind. Erst recht nicht für zwei sechszehnjährige Teens ohne eigenes Konto. Ich habe mir im Dezember 2005 zum ersten Mal ICQ heruntergeladen, ffs. Games gebraucht online shoppen? Insanity. Uns blieben also MediaMarkt, Saturn, Karstadt oder der Flohmarkt, um an unsere Spiele zu kommen. Und Bob hatte kein Glück, dieses damals bereits sieben Jahre alte, obskure Nischenspiel an einem dieser Orte zu bekommen.
Man findet Sachen im Leben immer dann, wenn man nicht nach ihnen sucht. Das habe ich aus einem Instagram Shorts Video. Oder von meinem Uropa auf dem Sterbebett, ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls fand ich American McGee’s Alice, als ich einen Film für meine Mama zur Videothek zurückbrachte. Ja, liebe imaginären Leser, die nach dem Jahr 1999 geboren wurden, eine Videothek.
Lange bevor man bei Netflix alle Filme, Serien und Animes unter der Sonne streamen konnte, konnte man sie per Post ausleihen und zurücksenden. Lange davor wiederum, gab es Videotheken. Medienbüchereien, wenn man so will. Für 1€ am Tag konnte man Videospiele, DVDs und später Blu-Rays ausleihen. So richtig mit Personal an der Theke, eigenem Ausweis und Kunden ID; es war crazy.
Kaum ein Gefühl der Scham kommt an jenes heran, das man bei einer ultraverspäteten Rückgabe von Medien bekommt und erstmal schön 50 Schleifen auf den Tisch legen muss, weil man vergessen hat, dass man The Simpsons: Road Rage noch im Regal stehen hatte. Das Spiel ist solide und kurzweilig, aber 50€? Die Auswahl an Spielmodi ist zu gering und auch wenn der klassische Simpsons Charme hier wirkt, hat man schnell den Eind… ach, das ist ein anderes Thema! Darüber möchte ich doch jetzt gar nicht diskutieren, man xD.
Zurück zum Stück: Die Videothek in der Straße meines Elternhauses verlieh nicht nur Spiele und Filme, sie bot sie auch, selbstverständlich gebraucht, zum Verkauf an. An diesem Tag eben auch Alice.
Bob und ich waren seit unserem vierten Lebensjahr befreundet. Wir haben uns als kleine Kinder in einem Vorschulbastelkurs kennen gelernt, als wir Igel aus Ton und Bleistiften kreierten. Zu dem hier beschriebenen Zeitpunkt waren wir sechszehn oder siebzehn Jahre alt. Bob war in all dieser Zeit nie ein offen emotionaler Typ, vieles machte er mit sich selbst oder seiner Kunst aus (er hatte begonnen Gitarre zu spielen und zu malen). Aber, als er Alice wieder in den Händen hielt… ich weiß nicht, ob ich diesen Blick je vergessen werde. Man konnte ihm ansehen, dass er wirklich Angst hatte, dieses Spiel nie wieder zu spielen. Er wirkte aufrichtig, für seine Verhältnisse beinahe befremdlich, gerührt.
Leider hatte sich sein Geschmack ziemlich stark verändert; er mochte das Spiel nicht mehr, beendete es nach 20 Minuten und wir haben nie wieder darüber gesprochen.
Spaß, natürlich. Ich wollte nur die Stimmung zwischendurch wieder auflockern. Alte Liebe rostet nicht und Bobs Begeisterung brannte unverändert in ihm und blieb gleichzeitig für mich in gleicher Weise ansteckend. Als dann auch noch im Februar 2009 ein Nachfolger angekündigt wurde, der den, in diesem Kontext nicht unironischen, Titel Alice: Madness Returns trug, war die Freude natürlich groß.
Was für eine Geschichte eigentlich, jetzt so im Rückblick. Da spielen Bob und ich im Alter von zwölf ein charmantes, einnehmendes und verrücktes Spiel, das aus einem Drogentrip stammen könnte und, wie so vieles andere, was wir damals spielten, kaum für Kinder geeignet war. Das Spiel kommt abhanden, wird aber nie vergessen, taucht Jahre später wieder in unserem Leben auf, nur um, weitere zwei Jahre später. eine Fortsetzung versprochen zu bekommen. Alle Teile schienen an ihren Platz zu fallen.
Wie gerne würde ich jetzt erzählen, dass genau das passiert ist. Wie gerne würde ich darüber schreiben, wie Madness Returns erschien, Traumwertungen kassierte und Bob und ich, wie in alten Zeiten, durchs psychodelische Wunderland zogen, die creepige Katze imitierten, Monster kloppten und ein Stück unserer Kindheit zurückbekamen. Dass es bis heute Kultstatus für uns beide hat und ein nicht enden wollender Fundus an Memes und insidern geworden ist, zu dem wir immer wieder gerne zurückkehren. Aber es kam alles ganz anders.
Im Sommer 2009 machte ich Abitur und zog weg. Als ich später in meiner Heimatregion zurückkehrte, machte Bob, mit leichter Verspätung, Abitur und zog weg. Ein einziges Mal spielten wir zwei Madness Returns zusammen. Direkt nach Release, keine drei Wochen vor seinem Umzug in das mehrere Autostunden entfernte Dresden. Wir kamen bis ans Ende von Kapitel 1, mehr war nicht drin. Alice did not return. Nicht für uns.
In den knapp zwei Jahren danach sahen wir zwei uns nur noch unregelmäßig. Vielleicht drei oder vier Mal im Jahr. Im Sommer 2013 dann, zerbrach unsere Freundschaft. Die Gründe dafür waren sicher vielseitig und sind heute, über ein Jahrzehnt später, nur müßig nachzuzeichnen. Ich war selbstgerecht, er kalt. Ich war zu sensibel und stur, er zu zynisch und rücksichtslos. Wir verloren unsere Augenhöhe, wir verloren uns. Ich verlor Bob. Einen Mann, den ich wie einen Bruder liebte.
Das muss sie sein, diese zu gleichen Teilen geschätzte und gefürchtete Geduld des Papiers. Die Geduld und die unverschämt entwaffnende Leere, die einen, versucht man sie zu füllen, oft zur schonungslosen Ehrlichkeit zwingt und so neue Erkenntnisse aufwirbelt, die man schon lange in sich trägt. Und eine solche Erkenntnis, so banal sie auch sein mag, kommt beim Schreiben dieser Zeilen über mich: Alice ist nicht willkürlich in meinem Backlog gelandet. Ich kaufte Alice: Madness Returns im August 2015. Die letzte Trophäe, bevor das Spiel für fast ein Jahrzehnt in meinem Backlog landete, erspielte ich am 9. September 2015. The Witcher III spielte ich laut Trophäenliste aber bereits am 24. August 2015 das erste Mal durch. Der einzige Grund, weshalb es in der Liste dutzende Einträge über Alice steht, sind die 2016 erschienenen DLCs.
Alice musste also nie The Witcher weichen. Das war zu diesem Zeitpunkt bereits kein Thema mehr. Eine bequeme Lüge also, die im Laufe der Jahre zur Überzeugung gereift ist. Besagte Trophäe des 9. September ist, sicher nicht zufällig, jene, die man für das Abschließen von Kapitel 1 erhält. Ich hatte nie weitergespielt, weil wir nie weitergespielt hatten. Damn…
Eigentlich sollen diese Blogeinträge eine Mischung aus Essay und einer ausführlichen Rezension über das jeweilige Spiel sein und ich verspreche, das werden sie in Zukunft auch. Aber dieses Mal ist mir nicht danach. Weil es hier ganz offensichtlich um so viel mehr ging, als das Spiel. Es ging um Bobs und meine Freundschaft, es ging um den Duft in seinem Haus, um seinen hyperstrengen Vater, der verwundert eine Braue hob, als wir ihm sagten, dass wir "Alice im Wunderland" spielten. Seine perfekte Imitation der Katze aus dem Game, die Schaukel in seinem Garten, die wir im Alter von 18 versehentlich kaputtmachten und er im Anschluss, unter den Flüchen seines Vaters, zu Feuerholz verarbeiten musste. Den Klang seiner Lache, die alle, die ihn nicht kannten, immer für aufgesetzt hielten. Die Wahrheit war aber, dass Bob einfach nicht gut lachen konnte und es tatsächlich so weird klang xD.
Es ging darum, etwas loszulassen, von dem ich die ganze Zeit über nicht wusste, dass ich noch so sehr daran festhalte. Das habe ich hiermit getan. Für mich… und auch ein bisschen für Bob.
Alles Gute, Leute, bis bald 😍
Das nächste Spiel im Backlog ist Dragon's Dogma: Dark Arisen. An gleicher Stelle bald mehr dazu.
…und spielt Alice und auch Madness Returns. Es sind charmante, kreative und abgefahrene Spiele, mit abwechslungsreich designten Levels, spaßigigen Dialogen und großartigem Soundtrack. Ja, sie werden phasenweise zusammengehalten von Pflastern, Tape und lockeren Schrauben. Aber sie strotzen voller Herzblut und guter Ideen. Auch wenn nicht jede einzelne davon landet.